Archiv 1999: hundert porträts und ein satz

Archiv Wilm Weppelmann: 1999 Teil 2

22.5. bis 30.6.1999 Ausstellung: „zukunft?! – hundert porträts und ein satz- photography Wilm Weppelmann“ gallery 48143 Münster Bahnhofstr. 6

Dokumentation: Fernsehbericht WDR 3 21.5.1999 und Radio Antenne Münster Mai 1999

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Ausstellungsraum klein

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Kurzbeschreibung:

„hundert porträts und ein satz“ sammelte Bilder und persönliche Stellungnahmen zum Thema Zukunft. Dieses Projekt entwickelte sich im fließenden Übergang aus einer bestehenden Ausstellung „ich sehe meine augen“. Innerhalb von einer Woche vom 11.5. bis 18.5.99 wurden von einhundert Passanten SW-Porträtphotos umgesetzt und jeder von Ihnen beantwortete eine Frage „Wie sieht mein Bild der Zukunft aus? Welche Vorstellungen habe ich davon?“ Diese ganz individuelle Antwort, als Satz oder einzelnes Wort, wurde ausgedruckt und mitporträtiert.

Die Zukunft in der Fotografie

Die Porträts von Wilm Weppelmann – eine Annäherung vor der Ferne von Dr. Jef van Gijsel / Antwerpen Mai 1999

Mit jeder Fotografie stehen wir vor einem Stück Vergänglichkeit und Vergangenem, die Gegenwart hat pausiert, um im Stillstand, in der Unterbrechung der Zeit, gefiltert und fixiert zu werden. „Erkennen Sie vielleicht jetzt selber, daß Sie vor einer Minute ein anderer waren? Sehen Sie lieber zu, ob Sie gar so sicher sein dürfen, daß Sie morgen noch der gleiche sein werden, der Sie heute zu sein glauben.“ 1

Immer den Blick rückwärts gewandt, auch wenn der Fotograf Jetzt meint und Realität, Vor- und Verstellung und Erscheinung in seinem Fotoapparat zu einem Bild mit eigener(m) Gegenwa(e)rt montiert. „Der Fotograf ist wohl oder übel damit befaßt, die Realität zu antiquieren und jede Fotografie wird sofort zur Antiquität.“ 2 Zeit und Fotografie driften auseinander, um wieder im Bild als Denkmal aufzuerstehen.

Darüber hinauszugehen, die Gegenwart hinter sich zu lassen und sich selbst zu überholen, ja in die Zukunft einen Blick zu werfen und im Bild festzuhalten, ist ein alter Menschheitstraum und dann doch wieder „Le temps est partie prenante“ 5 und alles dreht sich im Kreise. Die Auflösung der Grenzen, wo sich Zeitwege, Endlichkeiten, Aussichten, Visionen, Vermutungen zur Zukunft in der Gegenwart einer Fotografie verbinden und dann wieder vor dem Morgen als Gegenwart verschwinden, diese bemerkenswerte soziale Zeitreise entwikkelt sich in der Bildreihe „hundert porträts und ein satz“ von Wilm Weppelmann.

Der Exkurs über die Zeit muß weit ausbrechen, um dann vor der klaren Entschlossenheit dieser künsderischen Arbeit jede Verklärung aufzugeben. Also was ist los? Ein Newcomer entlädt in die künstlerische Fotografie belebende Dimensionen, näherte sich hinterrücks auf klassischem Schwarz-Weiß-Terrain, um dann wieder aus dem Bild in die Zukunft zu springen. und das alles vor der Lebensperspektive einer deutschen Provinzstadt, irgendwo zwischen Köln und Hamburg.

Dort in einer Fotogalerie in Bahnhofsnähe, also mitten im Herzen der Stadt, wurde im April 1999 die Ausstellung „ich sehe meine augen“ von Wilm Weppelmann eröffnet. Dies war der Ausgangspunkt und die Initialzündung für ein weiteres Projekt „hundert porträts und ein satz“. Die Ausstellungsräume konnte Wilm Weppelmann auch für die Umsetzung des neuen Themas nutzen. Er holte innerhalb einer Woche hundert Menschen von der Straße, um sie mit der Frage zu konfrontieren: Wie sieht Dein Bild der Zukunft aus? Diese Antwort wurde dann mittels Computer ausgedruckt und der Mensch mit diesem Blatt Papier in der Hand porträtiert.

So einfach und so komplex gestaltet sich hier die Rolle des Fotografen, denn er ist im Vorspann des Bildes Verkäufer, Moderator, Sozialarbeiter und Meinungsforscher, alles in einer Person und alles für ein Satz-Bild. „Vor dieser geballten, mentalen Kraftprobe hätte ich manchmal aufgeben können, denn ich hatte Wirkung und Tiefe der Auseinandersetzung mit den einzelnen Menschen unterschätzt“, gibt Wilm Weppelmann zu. Die Worte im Bild sind ehrlicher Ausdruck einer bewegten Zeit, einer Woche mit einem Künsder, der die Menschen ernst nahm und in hundert Gesprächen ihre eigene Sprachlösung suchen ließ, um diese Worte mit ihrem Bild-Gesichts-Ausdruck zu verbinden.

Und nun sind sie in großen Bildtableaus vereinigt. Einhundert Menschen mit ihren individuellen Zukunftserwartungen und ihren Vorstellungen. Jeder aus dem Zufall der Straße vom Künstler in ein kleines, temporäres Porträtstudio gelockt, um eine ganz besondere Aufnahme von sich machen zu lassen. Diese Menschen springen aus ihrer Zeit und mit ihrer Zeit in das ferne Unberechenbare, um in ihren Worten die Zukunft zu umschreiben, sie wissen, daß sie mit der Gegenwart die Zeit aus der Zeit anschieben und ihr die Kontur von Zukunft vermitteln können oder auch hilflos, verloren davorstehen und dieses Statement halten sie nun in ihren Händen und findet sich bald in einem Bilddokument wieder, mit ihrem Porträt untrennbar verbunden. Jedes Gesicht lebt im Bild aus Toleranz und Respekt, so wird der erweiterte dokumentarische Aspekt auch wirklich von Identifikation getragen und in der Gesamtheit wieder zu einer sozialen Plastik vereinigt.

Für die Fotopuristen vollführt Wilm Weppelmann natürlich einen unangenehmen Spagat, denn die Kombination zweier Zeichensysteme Foto und Wort läßt hier irgendwann das Bild der Vergangenheit zurück, um an dem Text die Gegenwart als Zukunft zu verifizieren und doch bleibt beides in diesem spezifischen Identitätsdokument verbunden, als ein Ausdruck von gestern. Da dieser Kunstgriff mit einer besonderen inneren Konsequenz und Transparenz aus dem Rahmen fällt, gewinnt diese Arbeit eine zusätzliche Faszination und Ausstrahlung, die sich auch im Ausstellungsraum mitteilt, denn Wilm Weppelmann überläßt die Formperspektive der Präsentation nicht der Einseitigkeit, sondern durchlebt und durchdenkt den Raum, um alles im Ganzen für den Betrachter neu zu erschaffen. Ein aufregender Weg, wohin? Die Neugier hat Zukunft …… –

1 Luigi Pirandello „Einer, Keiner, Hunderttausend“
2 Susan Sontag „Über Fotografie“
3 Christian Dotremont, ein Logogramm von 1973

Interview mit Wilm Weppelmann Radio Antenne Münster Mai 1999

Interview mit Wilm Weppelmann, Fotokünstler, zu seinen Ausstellungen „100 Porträts und ein Satz“ und „lch sehe meine Augen“

Herr Weppelmann, Sie haben in Ihrer Ausstellung“ 100 Porträts und ein Satz“ die Zukunftsvisionen von Passantenfestgehalten. Was interessiert Sie an den Zukunftsbildern fremder Menschen?

Ich war mit diesem Ausstellungskonzept auf der Suche nach dem Menschen. Mein Interesse war, den Menschen neu zu entdecken, neue Gesichter von Menschen zu entdecken. Diese Gesichter schlagen sich dann auch in den Visionen nieder. Auf der anderen Seite wollte ich auch die Erwartungen dieser Menschen entdecken, da ich davon ausgehe, daß Erwartungen Realitäten erwecken · und daß die Zukunft jetzt schon wie ein Patchwork in den Vorstellungen der Menschen und in ihrer Realität da ist.

Wollten Sie den Menschen diese Realitäten oder Erwartungen bewußt machen, indem Sie sie konkret darauf angesprochen haben?

Ja, aus dieser Arbeit hat sich natürlich eine Diskussion ergeben. Ich habe die Menschen von der Straße geholt wtd ihnen die Frage gestellt: Wie sieht dein Bild der Zukunft aus? Manche konnten das in funf Minuten beantworten. bei manchen hat es eben eine halbe Stunde gedauert. Teilweise gab es sehr intensive Auseinandersetzungen darüber, was Zukunft heißt: Ist es das Morgen, geht es darüber hinaus, welche Vorstellungen hat man davon? Das hat natürlich bei einigen Gedankenprozesse berordert, und es war eine sehr intensive Auseinandersetzung . •

Die Menschen haben sehr unterschiedliche Bilder von der Zukunft gezeichnet; von ganz düster bis zu heiter ist alles dabei. Gibt es Aussagen, die Sie besonders beeindruckt haben?

Die Aussagen, die im Bild festgehalten worden sind, entstanden aus der Auseinandersetzung. Ich kann das nicht so konkret festmachen. Es haben ganz spezifische Auseinandersetzungen stattgefunden, um überhaupt zu einer Aussage zu kommen. Ich kann daher keine Vorliebe für eine bestimmte Aussage benennen. Der Prozeß ist wichtig, nicht das Ergebnis.

Die Art, wie Sie die Zukunftsvisionen festgehalten haben. ist ja für ein Porträt ungewöhnlich. sie als Schrift mit ins Bild zu setzen. Steck hinter dieser Art zu fotografieren eine bestimmte Aussage von Ihnen?

Ich spiele natürlich ein bißchen mit der Fotografie. Text und Bild, das ist sehr widerspenstig, wenn der Text ins Bild aufgenommen wird und in dem Text eine erweiterte Sphäre der Porträtkultur angesetzt wird. Das heißt, dieser Text, dieses Wort oder dieser Satz, was es auch immer war, wozu der einzelne gefunden hat, ist ein Teil des Porträts. Er gehört zu ihm, ist ein Bestandteil und ein Ausdruck seiner Person. Das ist ein erweiterter Porträtcharakter. Ich spiele natürlich mit den verschiedenen Ebenen der Porträtkultur oder -unkultur, und das macht mir auch einen Riesenspaß. Auf der anderen Seite wirken die Bilder direkt in dieser Masse. Es sind hundert Menschen, die durch den Zufall der Straße hier präsent sind, und jeder für sich ist mit seinem Charakter da, mit meinem Respekt fur seine Aussage. Ich war nur der Moderator. So ist eine ganz andere Modellsituation fiir die Fotografie entstanden.

Sie haben die Leute gefragt: Wie sieht Dein Bild der Zukunft aus? Sie haben dieses Bild dann als Satz festgehalten, also wieder zurückgeführt vom Bild in den Satz …

Das ist natürlich auch sehr widerspenstig. Auf der einen Seite ist das Foto Gegenwart, jetzt schon wieder Vergangenheit des Porträtierten und Ausdruck davon. Auf der anderen Seite ist dieser Text eine Fotografie kann nie die Zukunft festhalten – Ausdruck von Erwartungen von Zukunft. Also eine sehr widerspenstige Angelegenheit und sicherlich fiir den puristischen Fotografen nicht ganz verträglich.

Vielleicht ähnlich widerspenstig wie die Porträts in Ihrer vorigen Ausstellung „Ich sehe meine Augen“? Da waren die Augen der Portrtitierten verdeckt, sie wirkten sehr verschlossen. Im Gegensatz dazu kehren sie jetzt in dieser Ausstellung ein bißchen ihr Innerstes nach außen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Fotoreihen?

Natürlich gibt es einen Zusammenhang. Bei der einen Ausstellung habe ich mich den Menschen von hinten angenähert, also den Menschen fast hinterrücks überfallen. Die Fotos sind alle inszeniert. Ich habe die Menschen dazu bekehrt, eine bestimmte Haltung einzunehmen. Ich bin dazu mit dem Fahrrad durch die Stadt gefahren, weil das Fahrrad einfach einen sehr direkten Zugang zur Atmosphäre rundherum hat. Dabei habe ich Menschen entdeckt und gesagt: Könnt Ihr euch mal gegen die Mauer stellen und euch die Hände vor die Augen halten? Dabei ist die Reihe „Die erdabgewandte Seite“ entstanden. Das sind alles Dinge, die man normalerweise in der Porträtkultur nicht macht. Ich habe versucht, den Menschen von der Rückseite her zu finden und dazu noch ein sehr widerspenstiges Wortwerk gesetzt. Aber das kann man nicht mit Worten beschreiben, dazu muß man die Bilder sehen.

Sie sagen, Sie haben sich den Menschen von hinten angenähert. Jetzt sind Sie ja sozusagen an ihnen vorbeigerannt in ihre Zukunft, wenn ich einmal dieses Bild fortführen darf: Liegt darin der Zusammenhang zwischen den beiden Ausstellungen?

Ja, Sie haben das ganz schön ausgedrückt. Ich bin natürlich nicht an ihnen vorbeigerannt, sondern ein Stück neben ihnen gerannt in ihre Zukunft hinein. Ich habe sie mit ihrem Bild von sich – und das ist wirklich ein Bild von ihnen- mit Respekt und Verantwortung fur den einzelnen, den ich vor meiner Linse hatte, fotografiert. Ich wollte nicht nur wissen, welche Wünsche und Hoffnungen die Menschen haben, sondern allgemein, was sie von der Zukunft erwarten, auch wo ihre Befürchtungen sind. So sind die Sätze entstanden.

Jetzt kommt die Frage, die Sie wahrscheinlich schon erwarten, die ich aber doch am Ende dieses Interviews stellen möchte: Wie sieht denn Ihr Bild der Zukunft aus?

Experiment und Seele.

Herr Weppelmann, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

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