Archiv 2004: Wilm Weppelmann „Einführung – Ausstellung „sterben kommt“
Katalogbeitrag zur Ausstellung „sterben kommt. szene_Wilm Weppelmann“ 24.4.2004 bis 19.9.2004 im Museum für Sepulkralkultur Kassel
Wilm Weppelmann – Einführung in die Ausstellung
“ Oder die Kunst in sich zu wohnen“
Es ist, als müssten wir schon bekannte Dinge und Orte wiedererkennen, indem wir ihnen immer wieder imaginäre Verkleidungen abnehmen. Carmelo Samonà „Brüder“
Alles ist so selbstverständlich, denn unsere Täglichkeit ist gut organisiert. Die Programmzeitung liegt oben auf dem Fernseher, die Milch steht ganz außen im Getränkefach, der Parkplatz ist reserviert und wir verlassen gegen 8 Uhr das Haus, die Nachbarn wechseln selten, die Kollegen gehen mit in die Kantine. Das Leben ist uns vertraut. Wir wissen, wo wir hingehören und wer wir sind. So könnten wir störungsfrei und beruhigt unserem Leben nachgehen, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat. Aber wir spüren den zunehmenden Schatten von Veränderungen, der sich mit den Jahren in unseren Körpern breit macht.
Um diesen brüchigen Stellen in unserem Leben aus dem Wege zu gehen, entwickeln wir eine durchtriebene Meisterschaft. Wir üben den Tunnelblick, das Ausblenden, die Einseitigkeit, die Verstellung, die Weichspülung, die Schönfärberei, die Lüge, die Kosmetik, die Selbstverleugnung, die Ausflucht, die Schuldzuweisung, die Vernebelung, die Ausrede und die Delegation, nur damit wir nicht sehen, was zu uns gehört. Es wäre ja zu schön, den Dieb, der sich an unserem Leben zu schaffen macht, in sicheres Gewahrsam zu nehmen, aber die böse Wirklichkeit lauert überall.
Auf der Straße werden wir von Verboten und Geboten in eine überlebensfähige Bahn geführt, denn mit nur einem kleinen Schritt aus der Reihe wären wir auf der anderen Seite. Auch im Rückzugsfeld des eigenen Heims hat sich das Thema häuslich eingerichtet, wir nehmen unsere Vergänglichkeit in lästiger Verbundenheit mit.
Zwar meinen wir mit dem Haus die Welt getrennt zu haben: wir da drinnen, ihr da draußen, Eigenes und Fremdes, Intimität und Öffentlichkeit, Ordnung und Chaos, gut und böse, Sicherheit und Gefahr, Nähe und Abstand, Wohlbefinden und Missbehagen, Vertrauen und Misstrauen, Wärme und Kälte, Plan und Schicksal, Liebe und Gleichgültigkeit, Freizeit und Arbeit, Freund und Feind, 11 Oder die Kunst in sich zu wohnen Verständnis und Missverständnis, Leben und Tod. Die Schattenseite der Welt möchten wir da draußen lassen, aber sie findet trotzdem einen Weg in die Idylle. Die Illusion der häuslichen Burg lässt sich selten aufrechterhalten, denn die Bedrohung und das Fremde wachsen von innen. So garantiert die äußere Fassung keine paradiesische Sicherheitszone
Mit einem Schlüssel bekommen wir Macht. Wir können die Dinge öffnen und verschließen je nach Belieben, nur noch die richtige Haustür muss es sein. Die entscheidende Antwort kommt immer durch die Hintertür. Die Diele übernimmt die Vorsortierung und den Empfang. Und dann einen Blick in den Spiegel und wir sehen die Jahre dahinfliegen. Der Garderobenständer muss die schwere Last der Häutungen tragen: alles was wir vom Leben angenommen haben, müssen wir auch dort wieder ablegen und Geschenke gab es im Überfluss.
Im Wohnzimmer bringt das Zappen mit der Fernbedienung keine richtige rosarote Entspannung, sondern eher Verzweiflung. Schauspieler sind geübte Vielsterber, zeigen schon mal wie es geht und nehmen ihre Stellvertreterrolle sehr ernst.
Aber zum Trost – in der Küche wird nicht mehr gehungert und verhungert. Das Leben ist voll und kann nie leer sein, der Kühlschrank verdrängt den Zerfall. Brot ist immer da. Die Nachschublinien für den Überlebenswillen arbeiten reibungslos – frei Haus, in portionsgerechter Verpackung. Wir könnten uns nur Gutes gönnen… dass wir den Lebensspaß ein wenig mit Zigaretten versüßen und auch verkürzen, ist da doch nur eine Randnotiz oder?
Und bei den Kindern ist die Welt noch in Ordnung, in einer besonderen Ordnung: Sie müssen sich im Dschungel virtueller Kampfwelten behaupten und ihre Gameboyfertigkeiten stählen, damit die letzte Bilanz auf dem Scorescreen stimmt. Mit Leben vernichten hat das nichts zu tun, denn darüber spricht man nicht, es ist ja nur ein Spiel. Doch manchmal dringt ein ganz tiefer Schmerz zu den Kindern, der sich weit über die ersten Jahre hinausdehnt; es können ein totes Haustier oder die gestorbenen Großeltern sein, aber auch hierüber spricht man nicht – die Vereinsamung beginnt.
Das Schlafzimmer behält heute seine Frische, denn wir sterben sicher verwahrt woanders, nur der Arzt und Fachmann weiß, wann es soweit ist, und wie damit umzugehen ist. Der letzte Ort gehört nicht mehr zu uns, und nur die Träume zeigen einen anderen Weg, eine andere Verantwortlichkeit für das Leben.
Aus der Vogelperspektive relativiert sich alles. Vom Balkon erscheinen alle Probleme klein, weit entfernt und verschwinden hinterm dem Horizont. Wenn wir die Details aus dieser Perspektive heranholen, wird Übersehenes, Bekanntes, Einfaches und Gewöhnliches ganz merkwürdig und neu. Die Dinge sortieren sich überschaubarer. Sie lassen eine distanziertere Annäherung zu, und man kann sich bei Gefahr schnell wieder in sein Schneckenhaus zurückziehen. Nur in diesem Schneckenhaus wartet wieder das Ungemach, die letzte Verschwörung. Egal, wo man sich dreht und wendet, der Lebenspuls ist immer hart am Wind.
Aber wir haben ja noch den Abort, eine Kulturleistung mit umgreifender Entsorgungsmentalität für Schäbigkeiten. Prinzip: Aus dem Auge aus dem Sinn. Und die letzten Schritte werden schnell in diese Sachgruppe abgeschoben; denn warum sollte man die Lebenden noch mit auslebenden Resten belasten? Kalt, bleiben wir zurück…
Wilm Weppelmann 2004