Archiv 2004: Prof. Dr. Sörries „Das Haus und davon, dass das Haus kein Dach hat“

sein liebe_GrößenveränderungKatalogbeitrag von Prof. Dr. Sörries zur Ausstellung  „sterben kommt.  szene_Wilm Weppelmann“  24.4.2004 bis 19.9.2004  im Museum für Sepulkralkultur Kassel

Das Haus und davon, dass das Haus kein Dach hat

von Prof. Dr. Sörries /Kassel 2004

sterben kommt. heißt die Ausstellung. In ihrem Titel thematisiert sie Sterben, aber darum geht es nicht eigentlich, sondern um Leben. Wahrhaftiges Leben allerdings gelingt nur – und diese These vertritt die Ausstellung – wenn es mit der Perspektive des Todes gelebt wird. Das heißt nicht, dass die Lebenseinstellung aus der Gewissheit dessen gewonnen werden soll, was jenseits der Schwelle des Todes warten mag, sondern dass aus dem Wissen um die Endlichkeit Verantwortung für das Leben erwächst.

sterben kommt. verträgt sich nicht mit althergebrachten Metaphern wie Die letzte Reise oder Der letzte Gang. Unter diesen Überschriften gelangen in den 1980er Jahren gehaltvolle Ausstellungen zum Beerdigungsbrauchtum früherer Zeiten. sterben kommt. will jedoch nicht zurückblicken, sondern Lebensräume heute entfalten helfen und deshalb zeichnet die Ausstellung unter Federführung des Münsteraner Künstlers und Ausstellungsmachers Wilm Weppelmann das Bild eines Hauses mit vielen Zimmern, in denen gewohnt, gelebt und nur selten gestorben wird.

sterben kommt. drückt im Bild des Hauses aus, dass wir in dieser Welt behaust sind – auf Zeit. Vielleicht wäre, um die Zeitlichkeit zu symbolisieren, das Bild des Zeltes, wie es seit biblischen Zeiten bis heute die Nomaden gebrauchen, angemessener gewesen, aber als Wohnraum entspricht das Haus eher unseren neuzeitlichen Erfahrungen. Und schon im Neuen Testament, wollen die Jünger, die mit Jesus auf den Berg der Verklärung gestiegen sind, Hütten bauen, weil es hier gut ist. Wir wollen uns einrichten. Wie wir dies tun, ist nicht beliebig, aber heute mehr denn je Geschmackssache. Die Zimmer unseres Hauses ähneln realen Zimmern, verschiedene Versatzstücke erkennen wir wieder: Türen, Garderobenständer, Fernseher, Bett, Klosett usw., aber sie sind mehr. Sie verkörpern Bewusstsein und Einstellungen. Ob der Tod in unserem Behaustsein dazu gehört, ist lediglich eine Anfrage oder Anregung, keine Mahnung. Für Weppelmann bedeutet dieses Behaustsein die Kunst in sich zu wohnen. Ich glaube nicht, dass sich die Bilder aussschließen: Wohnen auf Zeit oder nomadische Wanderschaft. Ich bin ein Gast auf Erden.

sterben kommt. kennt viele Räume, aber nicht alle Zimmerarten finden Berücksichtigung. Alle Bewusstseinsebenen sind nicht zu treffen. Eher gleichen die einzelnen Zimmer mit ihrem Mobiliar Assoziationen bzw. wecken solche. Für fast alle zeichnet Wilm Weppelmann verantwortlich – es sind seine Assoziationen, wesentlich bildlich umgesetzt und inszeniert.

sterben kommt. will dennoch die Perspektive leben wissen. durchschimmern lassen, wenngleich die Ausstellung nicht belehren will. Es gibt kaum Fakten zu vermitteln, eher Emotionen, die tief, aufwühlend, beunruhigend, tröstend oder betörend sein können.

sterben kommt. kann nicht mit Rezepten aufwarten oder Verhaltensweisen vorgeben wie in früheren Zeiten. Diese Klarheit braucht es beim Bewohnen dieses Hauses. Oder sollte man es eher Besichtigen nennen? Denn kein Besucher wird unmittelbar sein eigenes Behaustsein, sein eigenes Lebensgefühl hier wieder erkennen. In irgendeiner der vorbereitenden Arbeitssitzungen fiel dem Museumsteam im Gespräch mit Wilm Weppelmann auf, dass das Haus kein Dach haben wird. Zufall? Vergesslichkeit des Architekten? Oder Sinnbild dessen, dass die heutigen Erfahrungsräume des Todes nicht mehr unter einem Dach Platz finden können? Das Haus lässt sich nicht schließen, so als ermangelte es uns Heutigen eines sicheren Schutzes vor den Unbilden der Wirklichkeit.

sterben kommt. weiß als Haus ohne Dach, dass es zur Bewältigung des Todes – dem letzten großen und bleibenden Geheimnis des Lebens – keine gemeinsamen, verbindlichen Strategien mehr geben kann. Individualität und Pluralität bilden allenfalls noch Wohngemeinschaften, aber keine Hausgemeinschaften mehr. Dies sagen wir nicht mit Wehmut, sondern in der Überzeugung von einer Vielfalt des Lebens, die sich nicht bündeln lässt.

Die Palette der Antworten auf Todesfragen lässt uns eher ratlos zurück. Regalmeter lang präsentiert sich uns die einschlägige Literatur. Noch nie wurde über Sterben und Trauern so viel geschrieben wie heute, und wie stehen die Chancen, dass wir das richtige herausgreifen? Sterben als Markt der Möglichkeiten zwischen traditioneller Frömmigkeit und esoterischem Grundkurs. Muss dann nicht auch ein Museum, das sich ganz der Todesthematik verschrieben hat, an seine Grenzen stoßen, wenn es die gesicherten Bahnen kulturgeschichtlicher Phänomene verlässt, die anhand aussagekräftiger Exponate anschaulich beschrieben werden können? Liefert es mit den Bildern des Hauses Antworten auf Fragen, die nicht gestellt wurden?

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