Archiv 2003: „Die Angst vor dem Tod – die Angst vor dem Sterben“ Prof. Dr. Reiner Sörries
„ich verlässt ich – Bilder vom Leben und Sterben“
50 Schwarz-Weiß-Fotografien von Wilm Weppelmann
in der Akademie Franz Hitze Haus Münster vom 8.1.2003 – 28.2.2003
Dokumentation: Ausstellungskatalog „ich verlässt ich – Bilder vom Leben und Sterben“ mit Begleittexten von Prof. Dr. Dr. Sternberg und Prof. Dr. Reiner Sörries – Verlag Akademie Franz Hitze Haus 2003 ISBN 3-930322-45-5
Die Angst vor dem Tod – die Angst vor dem Sterben
Ein Paradigmenwechsel
Prof. Dr. Reiner Sörries/ Kassel
Die Welt ist anders geworden. Nicht erst jetzt, sondern schon seit geraumer Zeit vollzieht sich mehr oder weniger unbemerkt ein Wandel des Weltbildes, und mit ihm verändert sich unser Bild vom Tod. Es ist noch nicht lange her, da besaß der Tod seine Schrecken in dem, was danach kommt. Umfängliche Vorkehrungen traf der Mensch, um Vorsorge für sein Seelenheil zu treffen, ein Maßnahmenbündel, das wir Seelgerät nennen. Für die Zeit nach dem eigenen Tod wusste man von Menschen und Institutionen, die eine Seelenmesse oder ein Vaterunser oder einen Spritzer Weihwasser für die Arme Seele im Fegefeuer spenden würden. Oder man hatte diese sepulkrale Nachsorge durch Spenden und Stiftungen zu Lebzeiten gesichert.
Die Aufklärung räumte damit auf. Wissenschaftlich betrachtet gab es weder Fegefeuer noch Hölle, vermutlich auch keinen Himmel. Auch die empirische Erfahrung sprach dagegen. Doch statt mit der Angst vor dem Tod aufzuräumen, schürte der neue Geist die wissenschaftlich begründete Furcht vor dem Scheintod. Ihm zu wehren, ersann man auch ein geeignetes Gegenmittel, die Leichenhäuser zur Aufbewahrung des Leichnams bis zur Bestattung, und während dieser Zeit wachte der Leichenwärter, sein Ohr am Ende eines ausgeklügelten Wekkapparates, der die leiseste Bewegung des Scheintoten mit Gebimmel und Gerassel unüberhörbar gemeldet hätte. Die moderne Medizin und die Verlässlichkeit der Leichenschau haben der Angst vor dem Lebendigbegraben- werden auch ein Ende gesetzt. Doch war auch damit nicht nur ein befreites Aufatmen verbunden.
Die Annahme, nun endlich hätte der Mensch ohne Todesfurcht die Hinwendung zum sorgenfreien Leben vollzogen, erwies sich erneut als trügerisch. Das moderne Leben hält viele Gefahren bereit, die uns zu Lebzeiten ein qualvolles, leidvolles Siechtum bereiten können. Wie lebenswert erscheint uns ein Leben im Rollstuhl, an überlebensnotwendigen Apparaten, angewiesen an permanente Betreuung – und Bevormundung? Wieder hat an der neuerlichen Sterbensangst die Medizin ihren Anteil. Sie bekämpft immer erfolgreicher Krankheiten, die ehedem rasch zum Tode führten. Aber sie schränkt möglicherweise auch die Selbstbestimmtheit unseres Lebens immer stärker ein. Die Angst vor dem danach ist einer Furcht vor dem davor gewichen. Wie und wo werde ich sterben? Ist eine viele Menschen bewegende Frage.
Nachdem man lange versucht hat, die Faktizität des Todes zu verschweigen, gärt ein gesellschaftlicher Diskurs über ein Sterben in Würde. Die Frage der Selbstbestimmtheit bis zuletzt bewegt uns bis zur aufkeimenden Frage, inwieweit wir selbst in diesen Prozess eingreifen dürfen. Doch ich wage die Prognose, dass eine gesetzliche Regelung der Sterbehilfe die Todesfurcht nicht nehmen, sondern lediglich erneut verlagern würde, vielleicht dahin, wer die Entscheidung über meinen Tod mit mir teilt, oder sie mir sogar abnimmt.
Mitten hinein in diesen Paradigmenwechsel zielen die fotografischen Arbeiten von Wilm Weppelmann. “Hier möchte ich sterben” schildert jenen Wunsch, das für uns fremde, unvertraute und einmalige Geschehen des Sterbens in vertrauter, von uns geliebter Umgebung erleben zu dürfen, sei es im Arbeitszimmer, sei es in der geliebten Ecke unseres geliebten Heimes, sei es in der freien Natur an unserem Lieblingsplatz. Selbstzeugnis und Bild der Interviewten lassen diesen letzten menschlichen Wunsch anschaubar werden. Die Bilder suchen nach Geborgenheit und schaffen Vertrauen.
Wissend, dass das ein Wunsch ist, und eingedenk der Tatsache, dass selbst bei Erfüllung dieses Wunsches unser Ich zu verlöschen droht, bleibt die Sorge vor dem Verlust der Identität. Wir möchten bleiben, aber Ich verlässt ich, so lautet das zweite Thema der Weppelmannschen Sequenzen. „Ich konnte nicht mehr zu mir kommen“ ist aber mehr als Todesangst, es ist die Sorge, die uns schon zu Lebzeiten umtreibt, selbst wenn sie nicht krankhaft in die Behandlung eines Psychiaters führt. Gibt es kein danach mehr, so steigen die Anforderungen an das Leben und des Lebens an uns. Wir geraten in den Leistungsdruck der Selbstfindung und Lebenserfüllung und befürchten, unser Ich hat uns schon verlassen. Wie sollte nicht der Schrecken der Nacht, der pavor nocturnus, unser Leben und unser Sterben überschatten? So bezeugt die dritte Serie von Weppelmann das Bleiben der Furcht vor dem Tod auch in aufgeklärten, postmodernen Zeiten.
Und es wäre vermessen, wünschen oder hoffen zu wollen, der Tod würde seine Schrecken verlieren, irgendwann und irgendwie, wenn wir nur… , ja was? Im gesellschaftlichen Diskurs wird oft die Antwort gegeben, der Tod könnte dann seine Schrecken verlieren, wenn wir ihn nur als einen Teil des Lebens begreifen wollten. Die Hoffnung ist nicht unethisch, aber sie ist zumindest unbiblisch, unchristlich. Tod, so weiß das Alte Testament, bedeutet Ferne von Gott, denn Gott ist ein Gott der Lebenden. Im Neuen 13 Testament bleibt der Tod der Feind des Lebens. Christus bezieht ihn nicht in das Leben ein, sondern er überwindet ihn. Und Christsein heißt nicht, den Karfreitag zu akzeptieren, sondern auf Ostern zu hoffen. Und dies hat Auswirkungen auf das Leben, unser eigenes und das der anderen. Die Charta der Menschenrechte, die Präambel der Weltgesundheitsorganisation, unser Grundgesetz formulieren das RECHT AUF LEBEN in Freiheit und in sozialer und medizinischer Gesundheit. Dafür einzutreten ist die einzige Konsequenz aus der unabänderlichen Gewissheit des Todes.
Wilm Weppelmanns Bilder vom Leben und Sterben stellen diesen Zusammenhang wieder her. Sie verschweigen unsere Sorgen und Wünsche angesichts des eigenen Sterbens nicht, machen sie plausibel und real, und gleichzeitig lassen sie uns Kraft schöpfen, um für das Leben einzutreten. Damit unser Ich bei uns bleibt, ehe es sich im Sterben von uns trennt.
Prof. Dr. Reiner Sörries / Direktor des Museums für Sepulkralkultur Kassel 2003